WEIL ICH NUN MAL HIER LEBE
Harun Farocki, Azin Feizabadi, Forensic Architecture, Natasha A. Kelly, Erik van Lieshout, Henrike Naumann, Emeka Ogboh, spot_the_silence, SPOTS, Hito Steyerl, Želimir Žilnik
Laufzeit: 27. Oktober 2018 bis 31. März 2019
Für die Aufnahme eines Films wird das Treppenhaus der Münchener Metzstraße 11 zum Transitraum der BRD 1975: Želimir Žilnik porträtiert die Bewohner_innen, zumeist sogenannte Gastarbeiter_innen, die sich nacheinander vorstellen und von ihrer Herkunft, Ankunft und Situation in Deutschland berichten. Die mit ihrer statistischen Erfassung und Darstellung einhergehende Macht der Repräsentation zeigt sich in Aufstellung (2005) von Harun Farocki. Verschiedenste Grafiken zur Migration und Zuwanderung aus statistischen Erhebungen, Behördenschriften oder Lehrbüchern werden zu einem visuellen Vokabular unserer Wahrnehmung montiert. Die scheinbar neutralen Informationen der Abbildungen zeigen sich durch die Montage als eindimensionale Klischees, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägen: eine visuelle Gewalt, die von einem strukturellen wie auch alltäglichen Rassismus zeugt.
Dementgegen löst Azin Feizabadi in seinem Film Cryptomnesia (2014) die zu Stereotypen geronnenen Bilder auf, indem er die Geschichte einer Migration als Legende des heiligen Reinoldus, des Stadtpatrons von Dortmund, erzählt. Das von Emeka Ogboh neu gebraute Frankfurter Sufferhead-Bier verbindet das deutsche Reinheitsgebot für Bier mit der Existenz Schwarzer Deutscher und macht in der Sprache der Werbung durch minimal bildliche Eingriffe den auf visueller Ebene permanent präsenten Rassismus sichtbar. Die Perspektive von Schwarzen deutschen Frauen auf ihre Position innerhalb der Gesellschaft erzählt Millis Erwachen (2018) von Natasha A. Kelly in acht Porträts von Kulturschaffenden, die einen kritischen Blick auch auf die Rolle von Kunstinstitutionen richten. Erik van Lieshouts Video einer Fahrradtour von Rotterdam nach Rostock aus dem Jahr 2006 zeichnet ein Deutschlandporträt von Vorbehalten, Verlorenheit und sozialem Versagen. Davon ausgehend wird deutlich, dass die Anerkennung von Rassismus als Tatsache nicht etwa von Betroffenen geleistet werden muss, sondern das Verständnis einer deutschen Identität an sich betrifft. Die Videoreihe Normalität (1999–2003) von Hito Steyerl dokumentiert eine Folge antisemitisch und rassistisch motivierter Grabschändungen, Übergriffe und Gewalttaten, die im Hintergrund nationaler Großereignisse wie der Expo 2000 und der 10-Jahresfeier der Wiedervereinigung die Kontinuität dieser gesellschaftlichen Realität abbilden. Henrike Naumanns eigens für die Ausstellung produzierte Installation verschaltet räumlich und ästhetisch die ökonomische Gewalt der deutschen Wiedervereinigung mit ideologischen Ankerpunkten und Formeln rechtsextremer Gruppen.
Bereits 2006, fünf Jahre bevor öffentlich und medial die Morde und Bombenangriffe des NSU als rechter Terror anerkannt wurden, organisierten Angehörige von Halit Yozgat, Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık in Kassel den Schweigemarsch „Kein 10. Opfer!“, um auf die Verbindung zwischen den Morden aufmerksam zu machen. Ausgehend von den Morden des NSU zeigen die Porträts der Gruppe spot_the_silence (Rixxa Wendland, Christian Obermüller) die lange Geschichte der Gegenwart von Rassismus in Deutschland. Aktivist_innen und Betroffene rassistischer Gewalt, etwa der Pogrome in den 1990er-Jahren, erzählen von ihren Erfahrungen und ihrem Wissen, das systematisch aus dem behördlichen und medialen Diskurs ausgeschlossen wird. Die Wahrnehmung dieses Ausschlusses führte 2017 zur Beauftragung der Gruppe Forensic Architecture, die in ihrer Arbeit 77sqm_9:26min (2017) die Anwesenheit des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat untersuchten. Die in der Ausstellung gezeigten SPOTS entstanden anlässlich des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ 2017 als eine Reihe von Kurzfilm-Interventionen, darunter auch der titelgebende Film Weil ich nun mal hier lebe (1995/2017).
Die über künstlerische oder dokumentarische Zuschreibungen hinausgehenden Arbeiten dieser Ausstellung setzen sich mit strukturellem und institutionellem Rassismus und Gewalt auseinander, die einen Angriff auf unsere Gesellschaft darstellen. Dabei protokollieren, ergänzen und hinterfragen sie die Konstruktion einer nationalen Homogenität, in der rassistische Gewalt in all ihren Formen alltäglich, den vermeintlich Nichtbetroffenen jedoch oft nicht gegenwärtig, ist.
Zur Museumseite: Museum für Moderne Kunst / MMK
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