MARIANNA SIMNETT

Laufzeit: 27. Oktober 2018 bis 06. Januar 2019

Angelehnt an die Äbtissin Saint Æbbe die Jüngere von Coldingham die sich, laut Überlieferung, die Nase abschnitt, um einer Vergewaltigung durch die Wikinger zu entgehen, verstümmelt sich ein junges Mädchen in der Videoarbeit von Marianna Simnett, um ihre Unschuld zu wahren und mit dem Versprechen auf Freiheit, auf diese Weise der Bedrohung durch männliche Gewalt zu entgehen. Strikte Reinheit und Schönheit stehen der Gefahr drohender Invasion und Krankheit gegenüber. Nur absolute Sterilität schützt vor dem Ausbruch. Innerhalb der Schutzzone verselbständigt sich jedoch der Körper und die technologische Apparatur nimmt überhand.

Entfernte Körperteile entwickeln in einer albtraumhaften Sequenz ein eigenes Bewusstsein und werden zu rachsüchtigen Gegenspielern des Körpers, der sie abstieß. Eine „minimal invasive“ Venenoperation wird an einer Patientin durchgeführt, die willentlich in einem bewegungslosen Zustand verharrt. Nahtlos fließen die Aufnahmen zusammen mit Laborversuchen an Kakerlaken, die mittels gezielter Schocks in ihrer Bewegung kontrolliert werden können. Als ferngesteuerte Biobots sollen die höchst widerstandsfähigen Tiere in für Menschen unbewohnbare Gebiete vordringen. Die Überlegenheit des technisch manipulierten und zugleich zum Objekt degradierten Tieres lässt den menschlichen Körper umso angreifbarer, machtlos in seiner Bedingtheit und abhängig von medizinischer Intervention erscheinen.

Die einzelnen Episoden verdichten sich in der Videoinstallation Blood in My Milk der britischen Künstlerin Marianna Simnett zu einer drastischen Erzählung über gegenwärtige Mechanismen der Kontrolle, die das Geschlecht und den Körper als umkämpftes Terrain vermessen. Obszönität und Immersion entstehen gerade dort, wo die Kamera invasiv vorgeht, wo die Nähe des Gezeigten über das natürliche Sehvermögen hinausgeht, die Kamera in den Körper eindringt. Jede Pore, jedes Sekret wird sichtbar – Horror, nicht durch Fiktion, sondern durch den Realismus des Fleisches, des Körpers, der einfachen Apparaturen bis hin zu hoch entwickelten Technologien. Die Filmsequenzen sind durchzogen von hierarchischen Machtstrukturen und kategorischen Dichotomien, die sich mit dem Verlauf der Erzählungen in drastischer Weise auflösen oder schmerzhaft durch die Figuren zu Fall gebracht werden:

Der medizinische, technologische und pharmakologische Eingriff in den menschlichen wie den tierischen Körper und die damit verbundenen ökonomischen, sozialen und patriarchalen Machtstrukturen bilden das dominante Narrativ in Simnetts Arbeit. Die kulturellen wie ideologischen Grenzen, an welche die Figuren ständig stoßen, sind zwar unsichtbar, doch nicht minder gewaltsam. Die permanente Kontrolle, die alle auf alle und das Selbst auf das Selbst ausüben, lässt ein rigides System mit bedingtem Kontrollverlust entstehen, aus dem es unmöglich ist, unbeschadet zu entkommen. Simnetts Figuren suchen ihre Freiheit dort, wo sie, aus einer Position der Ohnmacht heraus, zum Handeln gezwungen sind, aber zugleich nicht handeln können. Sie agieren drastisch, irrational, gewaltsam. Ihre Körper werden zum Verhandlungsfeld, das erst sukzessive im Laufe des Films zurückerobert wird.

Das Drehbuch von Blood in My Milk fußt auf einem langen Rechercheprozess, in dessen Verlauf Marianna Simnett zahlreiche Gespräche mit Ärzt_innen, Bäuer_innen und Studierenden führte – auch um eine Sprache für die Figuren zu entwickeln, die allesamt von Laiendarsteller_innen gespielt werden und im Film ihrer tatsächlichen beruflichen Tätigkeit nachgehen. Mit der Fünfkanal-Videoarbeit Blood in My Milk wird das Werk von Marianna Simnett erstmals außerhalb Englands in Europa ausgestellt.

Kategorien:
Kunst | Zeitgenössische Kunst | 21. Jahrhundert |  Ausstellungen im Bundesland Hessen | Ort:  Frankfurt am Main |
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