Lexikon

Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, bearbeitet von Max Heiden, Stuttgart 1904

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Eintrag: Lilie
Lilie (lat.: lilia, flor-decilium; franz. und engl.: fleur de lis), Pflanzen­gattung aus der Familie der Liliaceen, mit 45 bekannten, in den gemässigten Regionen der nördlichen Erdhälfte verbreiteten Arten (Abb. 186 u. 187); vom 13. Jahrh. an ornamental verwendet, wozu wohl ihre Nutzbarmachung als Wappen beigetragen hat, als welches sie zuerst von König Ludwig VII von Frankreich 1137-1180 benutzt worden ist. Unter seinem Nachfolger Philipp II (1180-1223) begann man bereits, die Krönungsgewänder, Kreuze und Kirchen­ geräte mit Lilien zu bestreuen, dieselben auch im Wappenschilde in willkür­licher Zahl zu führen, bis König Karl VI 1380-1422 die Zahl der Lilien auf drei beschränkte. Seit dieser Zeit führte das französische Wappen drei blaue Lilien in Gold. In der Symbolik ist die weisse L. das Sinnbild der Unschuld und Reinheit der Seele. In diesem Sinne trägt auf den Darstellungen der Verkündigung (s. d.) der Erzengel Gabriel gewöhnlich einen weissen Lilien­stengel, oder neben der Jungfrau steht ein Gefäss mit weissen Lilien. Auf Geweben und Stickereien erscheint die L. weniger in Bedeutung als Wappen, wie als Ornament, in letzter Beziehung namentlich im gotischen Zeitalter (Abb. 99), welche Weise auch die Renaissance übernimmt (Abb. 190), worin die L. schliesslich zur blütenförmigen Palmette geworden ist (Abb. 188). Als halb naturalistische Kunstform ist die L. oft in den älteren Stickereien angewendet, wobei die aufgelegten breiteren Blattflächen im gegebenen Beispiel (Abb. 189) durch Malerei gefüllt sind.
Siehe auch:  Agen  Auch  Aue  Gewebe  Stickerei  Webe  Zahl
Abbildungen:

Abb. 186/187. Darstellung zweier Lilien aus: Lobelius, plantarum sev stirpium icones. Antwerpen 1581.

Abb. 186/187. Darstellung zweier Lilien aus: Lobelius, plantarum sev stirpium icones. Antwerpen 1581.

Abb. 188. Originalaufnahme aus dem Kgl. Landesgewerbemuseum in Stuttgart: Seidenstoff, Grund rotbrauner Atlas, Muster gelb geköpert: Reihenweis versetzte, lilienblütenartige Palmetten und Flammen. Italien 17. Jahrhundert.

Abb. 189. Darstellung aus: Heiden, Musteratlas, Leipzig 1896, Blatt 104: Ecke einer Kammtasche, Aufnäharbeit aut weissem Atlas in farbiger, z. T. bemalter Seide, mit Umrandung von Goldschnur: Blütenzweig mit Lilien, Randborte aus Ranke mit ver­ schiedenartigen stilisierten Blüten. Original aus dem sogen. Pommerschen Kunstschrank im Kgl. Kunstgewerbemuseum zu Berlin. Augsburg 16. Jahrhundert.

Abb. 190. Darstellung nach einer Photographie aus dem Kunsthandel: Madonnenbild von Crivelli (1412—1486). Original in der Gemäldegalerie der Kgl. Museen. (Vgl. Chormäntel aus gewebten und gestickten Stoffen der Madonna, des Petri und der beiden Päpste; die zu Füssen Petri stehende Tiara, die Mitra und die Hirtenstäbe, sowie die Alben, Stolen und Manipeln der Päpste.)

Abb. 99. Originalaufnahme aus dem Königl. Landesgewerbemuseum' in Stuttgart: Wollenstoff, grün, mit hellroter Seide und etwas Gold broschiert: Rauten aus ver­schlungenen Bändern enthalten Wappenlilien. Deutschland 14.—15. Jahrh.