Leinenstickerei bezeichnet im weiteren Sinne jede auf einem leinenen Grundstoff gefertigte Stickerei, welche seit den ältesten Zeiten zur Musterung von Kleidern und anderen textilen Gegenständen gebräuchlich ist. Zunächst ersetzte die Leinwand nur andere Unterlagen und es wurden die Muster ebenso wie auf
Seide und
Wolle in farbigem Material ausgeführt, das mit Rücksicht auf die Waschbarkeit kaum einer besonderen Auswahl bedurfte, da die Farben der älteren Zeiten sich grosser Haltbarkeit erfreuten (Abb. 96 und 97). So finden sich noch aus dem 15. Jahrh . namentlich viele kirchliche Leinenstickereien, Antependien, Kelchtücher u. dgl., welche in bunter
Seide im Plattstich mit Apostelfiguren, gotischem Bankenwerk und Blüten bestickt sind. Aus etwas späterer Zeit sind ferner Leinendecken (schweizer Arbeiten) für kirchliche Zwecke erhalten, deren kostbarste in
Seide und Gold (Abb. 100), die meisten in bräunlichem und weissem
Garn im
Stielstich gearbeitet wurden. Diese Art der Leinenstickerei mit Mustern in beliebiger, freier Linienführung findet in Sticharten und in der Verzierungsweise die gleiche Entwickelung wie die übrige Kunststickerei. Eine besondere Art der L., und diese wird in engerem Sinne darunter verstanden, ist jene, welche in der Mustergebung den quadratisch teilbaren
Grund berücksichtigt und dementsprechend auf Sticharten beschränkt ist, welche sich dem Netzfach anpassen lassen. Die am meisten dafür in Anwendung kommende Technik ist die des Kreuzstiches, dem sich viele andere Sticharten und Ziernähte in einfacher und doppelseitiger Ausführung anschliessen. Dieser eigentlichen Leinenstickerei, bei welcher der
Grund die Ausführung und Wirkung des Musters wesentlich beeinflusst, gingen in älterer Zeit die verwandten Arbeiten auf offenen Geweben, den sog. Kanevas-Stramin- oder Segeltuchstoffen voraus, welche in Material, Technik und Musterung ihren eigenen Entwickelungsgang genommen haben; bezüglich der Mustergebung enthalten schliesslich etwas Gleichartiges noch die in Weiss und Bunt ausgeführten Filetarbeiten. (Vgl. hierüber die betreffenden Artikel im Einzelnen.)
Die Leinenstickerei auf abgezählten Fäden hat im 16. Jahrh. in Italien und
Deutschland eine weite Verbreitung gefunden, wozu besonders dafür erschienene
Stickmusterbücher (s. d.) beitrugen. Für unsere Zeit wurde das Gebiet der altdeutschen Leinenstickerei neu belebt am Ende der 1870er Jahre durch die Veröffentlichung älterer Muster, wie sie sich auf Mustertüchern, Tisch- und Bettzeug erhalten haben; altitalienische Leinenstickereimuster schlossen sich daran an.
Der Ursprung der L. ist im Orient zu suchen, woselbst sie in gleicher Art wie in Italien und
Deutschland schon früher von den Arabern geübt wurde: Beispiele davon im Kreuzstich (Abb. 175), im
Webstich (Abb. 176) und mit
Durchbrucharbeit in farbiger
Seide (Abb. 177), wie sie im 16. Jahrh. in
Spanien erscheint, fanden sich in koptischen Gräbern der späteren arabischen Periode.
Auch Mustertücher für Leinenstickerei (Abb. 178) entstammen diesen Funden; zahlreich vertreten sind darin die Borten im sogen. Holbeinstich, Kästchen oder
Strichstich (Abb. 25 u. 117). Uebrigens bedingt schon der Gebrauch der vielen Kopftücher, Shawls u. dgl. im Orient eine bei weitem grössere Ausbildung der Leinenstickerei, wozu auch das Tragen von leichteren Leinen- und Baumwollengewändern Veranlassung gibt. Die grösste Vielseitigkeit ist namentlich in den überaus zahlreich vorkommenden gestickten Shawls und Festüchern wahrzunehmen, welche auch auf Baumwolle gearbeitet werden. Diese der neueren Zeit angehörigen Stücke enthalten in farbiger Seide,
Goldfäden und -lahn die reizvollsten Blumen- und Flächenmuster (Abb. 179), welche sich genau dem quadratischen Fadensystem des Grundstoffes anpassen. Einfarbige Leinen-Stickereien in roter und blauer
Seide ausgeführt, oft so , dass die ausgesparte weisse Leinwand das Muster bildet, kommen aus Fez in Marokko (Abb. 180); dieselben haben den Weg über die griechischen Inseln genommen, sind dort und in Italien nachgebildet worden und gaben zur vielseitigen Ausbildung weitere Anregung, wobei auch die Technik des einfachen Kreuzstiches abgelöst wurde durch den
Webstich (Abb. 181), der als deckende Flächenfüllung in der Türkei (Janina; vgl. Abb. 125) in reichen Mustern vertreten ist. Italien bevorzugt im 16. Jahrh. in vornehm stilisierten geknickten Rankenmustern (Abb. 182) eine Stichart, welche filetartig durchbrochen erscheint (Abb. 183).
177. Originalaufnahme wie vorher: Borte eines Leinentuches mit Stickerei in weisser und blauer Seide; dazwischen Durchbruch: geometrische Felder. Herkunft wie vorher.
Etwas anders gestaltet sich die Leinenstickerei in
Deutschland und in den slawischen Ländern. Zunächst wird der Waschbarkeit des Materials dadurch mehr Rechnung getragen, dass statt der
Seide blaues und rotes
Garn zur
Stickerei Verwendung findet. Aber auch der gegebenen klaren weissen Grundfläche ist dadurch mehr künstlerische Wirkung zugedacht, dass die streng stilisierten Muster derartig darauf verteilt sind, um die Leinwand dabei mit zur Geltung kommen zu lassen. ' V or allem hat man darin jegliche Kurvenbildung vermieden, die doch der taffetartige
Grund schwer hergibt (Abb. 184).
Literatur:
Lessing, Muster altdeutscher Leinenstickerei, Bd. 1—3, Berlin 1878—90;
Lipperheide, Muster altitalien. L., Bd. 1 u. 2, ebd. 1881und 83;
Originalstickmuster der Renaissance, herausgegeben v. k. k. Oesterr. Museum,
Wien 1874;
Hans Sibmacher, Stick- und Spitzenmusterbuch nach der Ausgabe vom Jahre 1597, herausgegeben wie vorher,
Wien 1866;
derselbe, nach der Ausgabe vom Jahre 1604, herausgegeben von Dr. Georgens, Berl. 1874;
Cocheris, Patrons de broderie et de lingerie (Paris 1872), hat vier der ältesten französischen Bücher veröffentlicht;
Drahan, Stickmuster,
Wien 1873;
Lay und Fischbach, Südslawische Ornamente, Budapest 1878 und 1879;
Fischbach, Vorlagen für
Stickerei und Häkelei, Göppingen;
Lay, Ornamente südslawischer nationaler Haus- und Kunstindustrie,
Wien 1875—85;
Teschendorff, Kreuzstichmuster für Leinenstickerei, Berlin 1879, 84 u. v. a.