Lexikon

Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, bearbeitet von Max Heiden, Stuttgart 1904

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Eintrag: Seide
Seide (lat. serica; franz.: soie; engl.: silk; ital. seta; span.: seda; holländisch: zijde; dänisch: silke; ungarisch: selyem; polnisch: jedwab; böhmisch: hedvábi; schwedisch: silke; russisch: szeolk), besteht aus sehr feinen Fäden, welche die sogen. Seidenraupe spinnt, die nach mehreren Verwandlungen zu einem Schmetterling (Phalaena Bombyx mori) wird, der zu den spinnenden Nachtfaltern gehört. Obgleich es noch viele andere Seidenspinner gibt, versteht man unter S. üblicherweise nur das Produkt der gewöhnlichen Maulbeerraupe Bombyx mori. (Abb. 275.) Er ist mit ausgebreiteten Flügeln etwa 4 cm breit und höchstens 2,06 lang, seine Flügel sind schmutzig- oder gelblichweiss, mit drei blassbraunen Streifen und einem mondförmigen, oft kaum sichtbaren Fleck; seine kurze Lebensdauer ist ausschliesslich dem Geschäft der Fortpflanzung gewidmet. Das Männchen stirbt bald nach der Begattung; das Weibchen legt einige Tage nacheinander 300-500 Eier und stirbt dann ebenfalls. Die Eier entwickeln sich bei einer Wärme von 10° Celsius, wozu in warmen Ländern die Sonnenwärme hinreicht, in kühlen Gegenden aber künstliche Abwartung zu Hilfe genommen werden muss. In Asien, dem eigentlichen Vaterlande dieses Insektes, bleiben die Eier den Winter über an den Bäumen sitzen und die kleinen Paupen entschlüpfen im Frühling ihrer Hülle, sobald die Sonnenwärme den Knospen des Maulbeerbaumes die Blätter entlockt, in Europa hebt man sie in bestimmter Temperatur den Winter über auf und lässt sie nicht eher auskommen, als bis Nahrung für sie da ist. Die in Europa allgemein benutzte Bombyx mori, deren Nahrung die Blätter des weissen Maulbeerbaumes sind, ist ausserordentlich gefrässig und dabei sehr empfindlich gegen Kälte, Nässe und Wind. Zu ihrem Gedeihen gehört warme, trockene, heitere Luft und Ruhe, trotzdem erkranken und sterben viele. Die kleinen Raupen sehen anfangs schwarz aus, häuten sich aber viermal während ihres 6-7 Wochen langen Lebens und verändern bei jeder Häutung die Farbe: nach der letzten erscheint die Paupe weisslich oder braun mit dunklerem Kopfe, woraus man schliessen kann, dass die Zeit der Verwandlung nahe ist; sie hört jetzt auf zu fressen, wie vor der Häutung, wird unruhig, läuft schnell umher und sucht einen bequemen Platz, um sich einzuspinnen. Sie klebt nun zwei Tropfen des klebrigen Saftes (Fibroin), der ihr aus zwei Oeffnungen neben dem Maule hervorquillt, an den Gegenstand an, wo sie sich einspinnen will, bewegt den Kopf hin und her und haspelt dabei einen dünnen, klebrigen, an der Luft rasch erhärtenden Faden hervor, den sie mit den Vorderfüssen um sich wickelt.

Den ersten Tag spinnt sie nur ein unordentliches, weitläufiges, unzusammenhängendes Gewebe, das dem eigentlichen Geehäuse als Befestigung dient, über welches sie ein Zickzack mit strafferen Fäden spinnt, bis nach 7-8 Tagen ein ovaler Schlauch (Cocon) von der Grösse eines Taubeneies fertig ist, der sie unsichtbar macht und aus dem sie nach 2-3 Wochen als Schmetterling durchbricht. Der Cocon besteht aus einem einzigen Faden von durchschnittlich 400-500 m Länge. Das äussere, lockere Gespinst, die Flockseide - franz. bourre, engl, floss-silk - besteht aus viel dünneren und darum schon viel weniger wertvollen Fäden. Der Querschnitt einer Coconwand zeigt, wenn vergrössert, 5-10 Seidenschichten, die fest oder locker zusammenhängen. 7-9 Tage nach dem Einspinnen der Raupen werden die Cocons von ihren Trägern genommen und von der sie umgebenden Flockseide getrennt. Man wählt die besten zur Zucht aus und tötet die Puppen der anderen, indem man sie der Sonne aussetzt, aber auch durch Wasserdampf und geheizte Luft, trocknet sie hierauf und bewahrt sie zum Abhaspeln auf oder verkauft sie an fabrikmässig eingerichtete grössere Haspelanstalten oder Filandas. Die sogen. Doppelcocons, franz. douppions, ital. doppioni, sind weder zum Abhaspeln noch zur Zucht geeignet. Sie entstehen dadurch, dass zwei oder drei Haupen denselben Winkel aufsuchen und ihre Fäden beim Einspinnen kreuzen und verstricken. Um dieses zu verhüten, bedient man sich besonderer Vorrichtungen dem "appareil cellulaire isolateur". Auch die spitzen lockeren (cocalons) sind schwer abzuhaspeln. Geringwertig sind auch die chaquettes und calcines, d. h. solche Cocons, in denen das Insekt starb, bevor es den Faden vollendete. Alle die fehlerhaften Cocons, wozu noch die durchlöcherten C. percés, ferner die C. piques, C. tarmate, C. rugginose, welche in allen möglichen Gattungen, Rassen und Namen auf den Markt gebracht werden, bilden ein geschätztes Material der Florettspinnerei (s. Florettindustrie.)

Das Abhaspeln der Cocons geschieht erst, nachdem man sie in heisses Wasser getan hat, um die harzigen Teile auflösen zu lassen, durch welche die Fäden miteinander vereinigt sind. Nach dem Kochen erfolgt das Schlagen der Cocons, welches die Entfernung des äusseren Flaumes und der Flockseide bezweckt, die den Cocon umgeben, welches auch in einem Wasserbade geschieht. In vielen Betrieben wird dem Schlagen der Cocons mit den Händen vor dem maschinellen Verfahren der Vorzug gegeben. Das Seidenhaspeln geschieht mittels einer mechanischen Vorrichtung und hängt die Güte der Seide zum Teil mit von der Sorgfalt des Abhaspeins ab; denn nun erst kommt das Zwirnen oder Filieren der aufgehaspelten ERoh- oder Grèzeseide, franz.: soie écrue, ital.: seta grezza. Soll die Seide gefärbt werden, so wird sie locker gezwirnt; soll sie zum Einschlag beim Weben dienen und wird der Faden aus zwei oder mehr rohen, locker gedrehten Seidenfäden gemacht, so heisst sie Trama-, Tram- oder Einschlagseide; dagegen entsteht die Ketten- oder Organsinseide, wenn man vier und mehr Fäden zu einem zusammenzwirnt, nachdem man zwei und zwei je zu einem Faden zusammengedreht hat. Die Einrichtung der Filier- und Zwirnmaschinen war lange Zeit ein Geheimnis der Piemontesen und ein Engländer, John Lombe, setzte sein Leben aufs Spiel, um sich in Piemont eine genaue Kenntnis der selben zu verschaffen. Bei seiner Rückkehr legte er in Derby eine Seidenmühle an, von wo sich dieser Industriezweig weiter ausbreitete und sich nach Frankreich, Deutschland und der Schweiz verpflanzte, wo früher alles mühsam durch Händearbeit gesponnen wurde.


Abb. 275 Darstellung der Verwandlung der Seidenraupe bis zum Schmetterling aus dem "Buch der Erfindungen", Leipzig und Berlin 1879, Bd. 6, S. 310.


Das Mulinieren (moulinage) der Rohseide bezweckt die Vereinigung mehrerer Grezefäden unter gleichzeitiger Verbindung derselben vermittelst der Drehung und Zwirnung. Nach dem Putzen der Rohseide folgt das Dublieren, Es besteht in der Vereinigung mehrerer einfacher nur gereinigter Fäden anf einer einzigen Robine. Die fertig gezwirnte rohe Seide wird, um sie in den Handelsverkehr bringen zu können, aus der Robinenform in die übliche Strangform übergeführt. In England hat ein Strang von 48 Zoll engl, einen Umfang von 1,219 m mit 2496 Fäden, oder einer von 44 Zoll = 1,118 m mit 818 Fäden. In Frankreich hat der Strang 1 m Umfang, 1 Strang = 4 Gebinde zu 3000 Fäden, also 12 000 m. Zur Anfertigung solcher Stränge bedient man sich einer Windemaschine. Die gezwirnte Seide kommt in die Färberei, wo sie zunächst durch Kochen in einem Seifenbade von dem gummösen Stoffe, der bastartig den Faden umgibt, befreit wird. Diese Operation ist nötig einmal, weil ohne sie die Färbung nicht so gut gelingt, andrerseits aber auch deshalb, weil erst durch sie das Material die volle Elastizität erlangt, von welcher die Dauerhaftigkeit der Gewebe abhängt. (Vgl. Knecht, Pawson & Löwenthal, Handbuch der Färberei, Berlin 1895; Steinbeck, Bleichen und Färben der Seide und Halbseide, Berlin 1895; Silbermann, die Seide u. s. w. Bd. II, S. 280.) In den Seidenfärbereien werden die einzelnen Strähne, nachdem sie gefärbt, gewaschen und aufgewunden sind, bis zu einem gewissen Grade gestreckt, wodurch sich die getrennten Fasern wiederum fester an den Faden anschliessen, so dass dieser ein Ganzes bildet. Durch das Strecken gewinnt die Seide nicht nur an Glanz, sondern auch an Dauerhaftigkeit. Unter dem Konditionieren der Seide versteht man die Feuchtigkeitsbestimmung derselben, d. h. man ermittelt ihren Wassergehalt gegenüber dem wirklichen Handelswert. Aus den der Trocken anstalt übergebenen Seidenballen werden einzelne Probestränge gezogen, deren genaues Gewicht man durch doppelte Wägung findet, welche kontrolliert und auch doppelt notiert wird. Die hierauf stattfindende Trocknung dieser Probebündel erfolgt bei einer Temperatur von 105 — 108° Celsius, bei welcher die Seide während einiger Stunden in dem durch Dampf geheizten Trocknungsapparate verbleibt und wobei deren abnehmendes Gewicht durch die unmittelbar darüber befindliche Wage mehrmals genau bestimmt und registriert wird. Nach dem so gefundenen Gewicht wird das des ganzen Ballens berechnet. Ausser dem Konditionieren wird die Seide noch einer Prüfung unterworfen, das ist die Bestimmung der Faserfeinheit, welche man als Titrieren (s. d.) bezeichnet.

Geschichtliches: Die Seidenindustrie wird im frühen Altertum in China, dem Heimatlande derselben, zuerst getrieben; von dort hat sich dieselbe in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung über Indien und Persien bis nach Vorderasien verbreitet, trotzdem jedes Land sie als einen kostbaren Besitz für sich zu bewahren suchte. Als im 6. Jahrh. in Byzanz (s. d.) unter Justinian der Seidenbau eingeführt wurde, bestand dort schon eine Industrie, welche den Rohstoff von den persischen Händlern bezog: die Industrie selbst hatte ihren Schwerpunkt in den kaiserlichen Gynäceen (s. d.), in welchen für Rechnung des Staates und zumeist für die Bedürfnisse des Hofes gearbeitet wurde; die Privatindustrie war daneben nur in beschränktem Masse vertreten. Der Import vom Orient war noch immer sehr bedeutend; der Export nach dem Abendlande, besonders der von kostbaren Stoffen, zeitweise beschränkt. Erst im 12. Jahrh. ist die Fabrikation in Griechenland bedeutend geworden, neben Byzanz wurden Korinth, Athen und Theben die Hauptstätten derselben. Früher als in Griechenland blühte die S. in Syrien, das im 8. Jahrh. an die Araber verloren ging. Diese eigneten sich das Gewerbe an und verbreiteten es über die Nordküste von Afrika bis nach Spanien und Sizilien. Jeder Emir hatte bei seinem Palaste einen "Tiraz", in dem für seinen Bedarf seidene und goldgestickte Zeuge gewebt wurden: die Stadt Almeria zählte zu Evrisis Zeiten (Mitte 12. Jahrhdts.) 800 Stühle. Von Griechenland aus erfolgte die Einführung der S. nach Italien, indem König Roger I. 1146 von einem Kriegszuge griechische Seidenweber nach Palermo brachte. (Vgl. Palermo und Italien.)

In Frankreich war schon infolge der Kreuzzüge die S., im 13. und 14. Jahrh. in Uebung gewesen, namentlich in Paris und im Süden, auch durch die Uebersiedlung des päpstlichen Hofes nach Avignon (s. d.); aber erst unter Ludwig XI. (1461-83) gewinnt das Gewerbe dauernden Bestand, wozu die Berufung von Seidenarbeitern aus italienischen Städten besonders beitrug. Im Jahre 1466 wird die Manufaktur in Lyon, und 1470 jene in Tours gegründet. Letztere kam eher in Blüte als Lyon, dessen grosse Messen anfangs mehr dem Handel mit italienischen Waren dienten. Es hatte in der Mitte des 16. Jahrhdts. schon eine beträchtliche Anzahl Stühle im Gange, an denen neben den Italienern viele einheimische Arbeiter tätig waren, und fertigte Brokate und Seidenstoffe, die sich wohl mit den Produkten von Florenz vergleichen konnten. Franz I. (1515-47), der durch italienische Einflüsse der Industrie die künstlerische Richtung zu geben verstand, wurde der zweite Begründer der Manufaktur von Lyon, teils durch das Privilegium, das er 1536 zwei Genueser Unternehmern erteilte, teils durch den grossen Vorzug des Stapelrechts auf alle in das Königreich eingeführte Rohseide, welches er der Stadt 1540 gewährte. Heinrich IV. (1589-1610) führte den Seidenbau als einen allgemeinen Zweig der Landeskultur auch in den nördlichen Provinzen ein und förderte die Manufakturen, namentlich in Paris. Unter seiner Regierung fand ein Plan von Barthelmy Laffemas zur Förderung von Handel und Gewerbe Annahme, in welchem auch die S. eine hervorragende Stelle einnahm und welcher später von Colbert erweitert und von Pontchartrain und Chamillart im Jahre 1700 umgebildet wurde. Colbert erhob die S. in Frankreich auf den Gipfel ihrer Blüte; ihre Erzeugnisse übertrafen an Geschmack und Solidität die der Italiener, die sie nicht nur von dem inländischen Markt vollständig ausgeschlossen, sondern auch auf den fremden Märkten erfolgreich bekämpften. Lyon gewann jetzt vor der alten Nebenbuhlerin Tours und vor den übrigen Fabrikationsstädten, unter denen namentlich Paris, Avignon und Nimes zu nennen sind, einen bedeutenden Vorsprung. Trotz seines hochentwickelten Seidenbaues muss Frankreich im 18. Jahrh. doch fast zwei Drittel seines Bedarfs an Rohseide von auswärts beziehen, besonders aus Italien.
In Spanien knüpft die S. unmittelbar an diejenige der Mauren an, welche im Laufe der mittelalterlichen Jahrhunderte zu hoher Blüte gelangt war. Ihre Gesetze und Verordnungen Hessen die katholischen Könige nach der Eroberung von Granada (1492) bestehen; im übrigen suchten sie das Gewerbe auf alle Weise zu fördern. In Kastilien wurden Seidenmanufakturen zu Toledo begründet; neue Manufakturen entstanden auch in der grossen Hafenstadt Sevilla, deren Betriebsstärke 1650 auf 3000 Stühle angegeben, während das alte Granada 1540 etwa 1000 beschäftigte. Während der Begierung Ferdinands und Isabellas (1479-1504) wird schon viel zum Schutze der bedeutenden Seidenzucht des Landes getan und die Einfuhr fremder Fabrikate und fremden Materials verboten. Karl V. (1519-56) schaffte das Einfuhrverbot für fremde Fabrikate ab, während die Ausfuhr des Rohmaterials erlaubt blieb die Italiener, namentlich Genuesen, kauften massenhaft spanische Seide auf und führten ihre Fabrikate auf den spanischen Markt. Seit dieser Zeit ist die spanische S. in raschem Verfall begriffen; erst im 18. Jahrh. kam sie wieder zu grösserer Bedeutung, so dass Valencia am Ende desselben als Nebenbuhlerin von Lyon gilt.
Auch die Niederlande sind im Besitze einer alten S. gewesen, welche ihren Ursprung auf die mittelalterlichen Handelsbeziehungen zurückführt. Brügge war schon im 13. Jahrh. eine Station der Lucchesischen Kaufleute; im 15. Jahrh., vielleicht auch schon früher, besteht dort in dem Gewerk der cultensteckers eine eigenartige Seidenindustrie Das Gewerk verfertigte alle Sorten von Wämsern, Westen, Schleuderärmeln und dergleichen Luxusgewändern, fütterte die Kleider mit Seide und machte - wovon es den Namen führt - die prächtigen seidenen Bettdecken, die man im Mittelalter Culten nannte. Seidenweber und Seidenbereiter (Zwirner und Winder) bildeten samt den Gold- und Seidenstickern und den Borten wirkern eine Unterabteilung des Gewerks, das mit dem der eigentlichen Kleidermacher wegen der Befugnis zur Verarbeitung von Sammet und Seide in beständigem Streit lebte, bis der Magistrat 1552 auch den Kleidermachern diese Befugnis verlieh. Auch in Gent haben im 14. und 15. Jahrh. die Weber seidene Waren neben den wollenen gefertigt; die Hauptstätte der S. aber war Antwerpen, das schon im 13. Jahrh. in lebhaften Handelsbeziehungen mit den Venetianern stand und im 14. Jahrh. als grosser Stapelplatz für Seidenwaren bekannt war. Noch 1550 verbot eine Kleiderordnung Karls V. den Bürgern das Tragen seidener Gewänder; aber schon seit dem 16. Jahrh., wo die Verlegung der Handelswege aus dem Orient vom Mittelmeer an die atlantischen Küsten einen allgemeinen Aufschwung der wirtschaftlichen Tätigkeit hervorbrachte, bestand dort eine bedeutende Industrie von selbständigem Charakter, die Satin, Sammet, Cassa- und Trippsammet (mit Wolle oder Leinen vermischt), Burate (aus Seide und Wolle), leichte Taffete, Damaste und Brokate fertigte. Im 18. Jahrh. erreichte die S. ihren Höhepunkt, seit dem Ende desselben ist sie gänzlich in Verfall geraten.
Die weitere Ausbreitung der S. steht im Zusammenhang mit der im 16. Jahrh. beginnenden und bis ins 18. Jahrh. hinein sich fortsetzenden Gegenreformation, die 1685 in der Aufhebung des Edikts von Nantes gipfelte. Aus Italien, aus den spanischen Niederlanden, aus Frankreich wandern namentlich in der zweiten Hälfte des 16. und am Ende des 17. Jahrhdts. Ströme von Flüchtlingen, um ihren Glauben zu bewahren, in die benachbarten Länder aus: nach der Schweiz und nach Deutschland, nach Holland und England, nach Dänemark und Schweden, selbst nach Amerika Sie sind unter anderem auch die Träger und Verbreiter der Seidenindustrie gewesen. Aber, wie in dem Werke "Die Preussische Seidenindustrie im 18. Jahrh. u. s. w., Darstellung von 0. Hintze, Berlin 1892, Bd. III", dem diese (nach unten angegebenen Quellen ausgearbeiteten) Notizen entnommen sind, ausgesprochen wird, ist die landläufige Vorstellung, als ob Holland und England, Deutschland und die nordischen Beiche erst durch die französischen Refugies den Anstoss zur Einführung der S. erhalten hätten, nicht haltbar; "es handelt sich in den meisten Fällen nur um eine Stärkung der Industrie, um die Einführung neuer Artikel, eines besseren Geschmackes, einer vollkommeneren Technik; die Franzosen haben in dieser Beziehung für Europa gewirkt wie die Lucchesen für Italien. Andererseits ist die Schädigung der französischen Manufakturen wohl kaum eine so starke gewesen, wie gewöhnlich angenommen wird."
Nach Hamburg (s. d.) kam die S. über Antwerpen, es waren Dänemark, Schweden und Bussland, dazu ein grosser Teil von Deutschland ihre Abnehmer.
In England beruht die Einführung der S. in der Hauptsache auf der bewussten Initiative der Regierung nach dem Muster Frankreichs. Es bestand schon Mitte des 15. Jahrhdts. in London ein Zweig des Seidengewerbes; aber es handelte sich dabei nur um Bänder, Borten, Gürtel, Haarnetze und Dänemark und Schweden, dergleichen seidene Posamentierarbeit, nicht um die eigentliche Stoffweberei; aber noch das 16. Jahrh. hindurch herrschte das Bestreben, durch Luxusedikte den gewöhnlichen Leuten den Gebrauch von seidenen Kleidungsstücken zu verwehren erst im Anfange des 17. Jahrhdts. reizten die Erfolge Heinrich IV. von Frankreich zur Nachahmung. Eine epochemachende Bedeutung für die englische Industrie hatte die Ansiedlung der französischen Refugiés. Sie führten die schweren kostbaren Modestoffe, die schwarzen lüstrierten Taffete und andere Gattungen von Zeugen ein, die man bisher in England nicht gefertigt hatte, und verliehen der Industrie erst den universalen Charakter und die Möglichkeit, deu Bedarf des Landes an Waren zu decken. Den Rohstoff bezog man aus Italien, aus China (durch die ostindische Compagnie) und aus Persien. Es handelte sich dabei zum grossen Teil um wirkliche Rohseide (Grège), die erst im Lande selbst gezwirnt wurde. Den eigenen Seidenbau, der durch Jakob I. seit 1608 eingeführt worden war, scheint England im 18. Jahrh. ganz aufgegeben zu haben doch suchte man ihn in den Kolonien Karolina und Georgia heimisch zu machen.
In Schweden bemühte sich die Regierung seit dem westfälischen Frieden (1648) Seidenmanufakturen nach französischem Muster anzulegen: die erste ward 1649 in Stockholm gegründet, andere folgten.
Auch in Dänemark wurden auf Anregung der Regierung Seidenfabriken nach französischem Muster in der Hauptstadt begründet; 1735 wurde ein Kommerzienkollegium als besondere Behörde zur Beförderung der Manufakturen geschaffen.
In Russland bestand ein alter Seidenhandel von Persien her. Nowgorod mit seinen Messen und seinem Stapelrecht war der Mittelpunkt für den Betrieb der orientalischen Stoffe. Auch bestand schon im 17. Jahrh. eine Seidenindustrie, die aber im wesentlichen nur Posamentierweberei war; erst Peter der Grosse führte die grosse S. nach dem Vorbilde der westeuropäischen Staaten ein.
In der Schweiz wurden schon im 13. und 14. Jahrh. florartige Seidengewebe aus harter, ungekochter Seide, namentlich zu Schleiern und Kopftüchern, und vorzugsweise für den Export nach dem Norden und Osten verfertigt; im 15. Jahrh. ist diese Industrie wieder untergegangen; ihre Neubegründung knüpft sich an die Einwanderung der „Locarner" um 1550, protestantischer Flüchtlinge aus allen Teilen Italiens. Während des 17. Jahrhdts. kam es zu einem lebhaften Aufschwung der Industrie; man fertigte besonders Sammet und florartige Grewebe und betrieb auch die Tramezwirnerei und Florettspinnerei. Die eigentliche Stofffabrikation, die noch in den Anfängen war, wurde dann durch die französischen Refugianten in der Zeit von 1681-1717 eingeführt und hob sich bis zum Ende des 18. Jahrhdts. zu hoher Blüte. Auch nach Basel brachten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhdts. protestantische Flüchtlinge aus Italien, den Niederlanden und Frankreich die S. Hier handelte es sich vorzugsweise um Sammet- und Bandweberei; namentlich in der letzteren gewann Basel durch Einführung der Maschinenstühle seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhdts. eine hervorragende Bedeutung.
Deutschland begann die S. mehr und mehr einzuführen, nachdem Ulmer Kaufleute die am Comersee erlernte Sammetweberei um das Jahr 1515 in ihre Vaterstadt übertrugen. In Augsburg (s. d.) machte man um 1541 Versuche mit Goldzieherei und Brokatweberei. Nürnberger Handelsherren legten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhdts. Seidenzüchtereien und Filaturen in Italien, namentlich in Verona und Roveredo, an und Hessen in ihrer Heimatstadt selbst Atlas und andere Zeuge weben. Um dieselbe Zeit soll sich nach älteren Angaben der Kurfürst (Joachim II. ?) dem Beispiele des Kurfürsten von Sachsen folgend, durch einen Locarner Flüchtling eine Sammetweberei haben anlegen lassen. Der dreissigjährige Krieg brachte die Entwicklung der S. in Deutschland sehr zurück. In Augsburg, Frankfurt, Köln bestanden auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhdts. noch Seidenmanufakturen; doch handelte es sich nur um Zwirnerei, Färberei, Bandweberei und Herstellung leichter halbseidener Stoffe, und der Umfang des Grewerbes war nicht bedeutend; nur in Hamburg war ein Aufschwung erfolgt. Von grossem Einfluss für die spätere Entwicklung der S. ist die Tätigkeit des bekannten Johann Joachim Becher, der nicht nur durch seine Schriften, sondern mehr noch durch eine rührige Agitation bei Fürsten und grossen Herren die wirtschaftlichen Fortschritte, die er namentlich in Holland kennen gelernt hatte, in Deutschland auf die Bahn zu bringen suchte. In seinen Plänen spielt auch die Einführung der Seidenmanufaktur eine grosse Rolle. Auf seine Veranlassung wurden 1664 Versuche in Mannheim und Heidelberg gemacht, die sich aber zerschlugen; doch waren von Erfolg begleitet die Maulbeerpflanzungen bei Würzburg und später in München und Wien In Oesterreich übernahm Becher 1666 die Leitung solchen Werkes selbst, doch fehlte es sowohl hier wie da immer noch an der richtigen Unterstützung seitens der Regierungen. Besser gelang nachher die Begründung der S. in Sachsen, wo sie in den 70er Jahren des 17. Jahrhdts. der Kommerzienrat Daniel Crafft betrieb. Auch Langensalza wird um diese Zeit genannt, woselbst von Schweizer Webern eine Manufaktur von Stoffen aus Seide und Baumwolle in Betrieb war; seit 1700 wurde der grosse Messplatz Leipzig Hauptsitz der sächsischen Sammet- und Seidenindustrie An diesen allgemeinen Bestrebungen zum Wohle der Volkswirtschaft nimmt auch der Grosse Kurfürst von Brandenburg teil. (Vgl. Berlin u. Krefeld.)

Literatur:

a) Werke, woraus die geschichtlichen Notizen entnommen sind:

Pariset, Histoire de la soie (Paris 1862, 2 Bde.);
ders. Les industrie de la soie (Lyon 1890);
Francique-Michel, Recherches sur le commerce, la fabrication et l'usage des etoffes de soie, d'or et d'argent et autres tissus precieux en occident, principalement en France pendant le moyen-äge (Paris 1852, 2 Bde.);
Heyd, Geschichte des Levantehandels, Bd. II, 683 ff.;
Clement van Cauwenberghs, L'industrie de la soie a Anvers depuis 1532 jusqu'a nos jours (Bulletin de la societe royale de géographie d'Anvers depuis 1887, p. 105-146);
Bertholon, Du commerce et des mauufactures distinctives de la ville de Lyon, Montpellier 1787;
Bürkli-Meyer, Geschichte der Zürcherischen Seidenindustrie, Zürich 1884;
Caesar Moreau, Rise and progress of the silketrade in England, London 1826;
Anderson, Origin of commerce etc., London 1801, 4 Bde.;
Bartolomeo Cechetti, Dell' introduzione deir arte della seta in Venezia (Venezia 1866);
Ueber Florenz Pagnini, Della decima ... della moneta e della mercatura de' Fiorentini fino al secolo XVI. Lisbona e Luca 1765— 66, II. 106-124 u. 240 ff.
Pöhlmann, Die Wirtschaftspolitik der Florentiner Renaissance;
von Justi, Von Manufakturen und Fabriken (Kopenhagen 1757, S. 107).

Für Russland:

von Ordega, Gewerbepolitik Russlands (Tübingen 1885);
Storch, Historisch-statistisches Gemälde des russischen Reiches am Ende des 18. Jahrhunderts, 4 Bde. (Riga 1797, Bd. III, 238 ff.);
Geering, Handel und Industrie der Stadt Basel (ebd. 1886).

b) Allgemeine Werke:

Acta Borussica, Denkmäler der preuss. Staatsverwaltung im 18, Jahrh. u. s. w.: Seidenindustrie und ihre Begründung durch Friedrich d. Gr., 3 Bde., Berlin 1892;
Arles-Dufour, Exposition universelle de 1862.
Considerations generales sur les soies, les soieries et les rubans;
Bavier, Japans Seidenzucht, Seidenhandel und Seidenindustrie, Zürich 1874;
Bolle, Der Seidenbau in Japan, Wien 1898;
Bozzi, Notes sur l'industrie serigene, Bagnols 1861;
Broglio d' Ajano, Die venetianische Seidenindustrie und ihre Organisation bis zum Ausgang des Mittelalters, Stuttgart 1893;
Bujatti, Geschichte der Seidenindustrie Oesterreichs, Wien 1893;
Udo Dammer, Ueber die Aufzucht der Raupe des Seidenspinners (Bombyx Mori L.) mit den Blättern der Schwarzwurzel, Frankfurt a. 0. 1897;
Dolder, Die Fabrikation von Seidenstoffen im Kanton Zürich, ebd. 1851;
Dumas, Rapport sur l'amehoration des races de vers à soie, Paris 1857;
Dunder, Anleitung zur Seidenzucht. 3 Bde., Wien 1854;
Duseigneur-Kleber, le cocon de soie, Paris 1875;
Rondot, l'enseignement necessaire à l' industrie de la soie, Lyon 1877;
derselbe, L'art de la soie, 2 Bde., Paris 1885-87;
Silbermann, Die Seide, ihre Geschichte, Gewinnung und Verarbeitung, 2 Bde., Dresden 1897;
Yoshida, Entwicklung des Seidenhandels und der Seidenindustrie vom Altertum bis zum Ausgang des Mittelalters, Heidelberg 1895;
Ueber künstliche Seide: Cadoret, deutsch von Heil, Krefeld; Süvern, Berlin 1900.
Abbildungen:

Abb. 275 Darstellung der Verwandlung der Seidenraupe bis zum Schmetterling aus dem "Buch der Erfindungen", Leipzig und Berlin 1879, Bd. 6, S. 310.