Granatapfelmuster (franz.: Grenada; pomme d'amour; engl.: pomme granate) nennt man die Bildung einer Kunstform in der
Weberei der Spätgotik aus gleichnamiger Frucht in Vereinigung mit Motiven des Spitzbogens. Die Verwendung des Granatapfels als Muster kommt schon im Altertum vor und ist hier wohl auf symbolische Bedeutung zurückzführen, wie er auch übergegangen ist in die Ornamentik der koptischen Gewandreste. (Vgl. Abb. 3.) Weiterhin als Frucht erkennbar ist der Granatapfel in Geweben des 14. Jahrh., welche in Italien unter arabischem Einfluss entstanden sind. (Vgl. Abb. 45.) Daneben geht als ähnliche, aber weniger naturalistisch wiedergegebene Schmuckform der Pinienzapfen, der auch schon in
Assyrien bekannt war. (Vgl. Abb. 30 u. 76.) Verwandt in der Blütenbildung nähert sich diesen Formen auch die
Distel (vgl, Abb. 56 u. 57) und endlich ist den Genannten wiederum in der Frucht ähnlich die Ananas (vgl. Abb. 18); beides aber erst später vorkommende Motive. Alle diese Blüten-, Blatt- und Fruchtformen haben dem Stile der Zeit entsprechend zu dem gleichartigen sogen. Granatapfelmuster Anregung gegeben, das vom 15. Jahrh. bis ins 16. Jahrh. hinein im Orient, in Europa, vornehmlich in Italien,
Spanien und Flandern, zu Hunderten von verschiedenen Abwechselungen erscheint. Das Grundmotiv zu demselben wird also dem Orient entstammen, woselbst auch schon im 12. und 13. Jahrb. verwandte spitzovale Blütenformen vorkommen, die aber, wenn sie überhaupt in Zusammenhang damit zu bringen sind und nicht viel eher auf eine allgemeine Palmettenform der altchinesischen und persischen lotosähnlichen Blüte zurückzuführen sind, mehr an die Bildung des Pinienzapfens erinnern.
An der selbständigen 'Ausbildung des Granatapfelmusters in Europa hat entschieden der gotische
Stil mit den ihm charakteristischen Spitzbogenmotiven den grössten Anteil; denn die hieraus gebildete Umrahmung der Blüte oder Frucht ist in gleichzeitigen orientalischen Stoffmustern niemals so streng wahrzunehmen wie hier; wenngleich dem gegenüberzustellen ist, dass dem Araber die spitzige Bogenstellung durch seine
Architektur natürlich auch sehr geläufig war. Aber man dürfte nicht fehlgehen, nur jene Granatapfelmuster nach dem Orient zu setzen, welche die einfachere Spitzbogenumrahmung der Blüte oder Frucht in nochmaliger Einschliessung eines spitzovalen Feldes zeigen (vgl. Abb. 4 auf Tafel IV), das mit dem 16. Jahrh. auch von Italien für das Stoffmuster einsetzt, im Orient aber schon im 13. Jahrh. allgemein geworden ist. Orientalisierende Einflüsse machen sich, wie in allen Geweben Venedigs (s. d.), natürlich auch beim Granatapfelmuster bemerkbar; als Fabrikationsstätte des Orients dürfte in dieser Zeit schon
Skutari (s. d.) genannt werden. Die ältesten Granatapfelmuster erscheinen an breiten welligen Aesten, welche sich schräg über die ganze Fläche winden (Abb. 6 auf Tafel IV); unsymmetrisch gelangen sie auch noch zur Darstellung, wenn die Bogenfelder durch schlanke oder gerollte Blätter unterbrochen sind, deren Anordnung dem vorigen Typus entspricht.
Eine grosse Vielseitigkeit im Granatmuster ist in jener Grruppe von Damast- oder einfarbigen Sammetstoffen wahrzunehmen, die das Kernstück als kleine Blüte oder Frucht in einer Bogenumrahmung zeigen, welche sich einer grossen Palmettenform nähert (vgl. Abb. 1, 3, 7, 11 auf Tafel IV), worin die gotische Linienführung deutlich zum Ausdruck gelangt. Ebenso weisen die in feinen Linien geschorenen Muster (vgl. Abb. 12 auf Tafel IV) auf rein europäische Herkunft hin. Je mehr man sich der Renaissancezeit nähert, um so kleiner wird die Spitzbogenumrahmung des Hauptmotivs. (Vgl. Abb. 9 auf Tafel IV.) Ein dichter Blütenkranz umgibt dieselbe und dieser ist wiederum durch Bänder eingerahmt, den Kronen verbinden. Im Anfange des 16. Jahrh. erscheint dann der Granatapfel mit den herausquellenden Fruchtkernen noch einmal in seiner ältesten Gestalt und die Spitzbogenumrahmung ist abgelöst durch eine spätgotische Rose. (Vgl. Abb. 102 u. 103.) Zwischen diesen Ausläufern des Granatapfelmusters liegen die Damaste der Frührenaissance, welche das ehemalige einfache Motiv in reichster Entwicklung und durch Kronen verbunden zeigen (vgl. Abb. 8 auf Tafel IV), woran sich anschliessen die gleichzeitigen spanischen Stoffe mit abwechselnder Granatapfelblüte und dem Pinienzapfen, die schon in spitzovale Felder eingeschlossen sind, also den Anfang des Renaissancemusters darstellen. Deutlicher tritt der Pinienzapfen in der unter Abb. 104 dargestellten Sammetbrokattapete in Erscheinung, dessen Umrahmung aus Cypressenblättern und dem aus kleinen Tulpen- und Nelkenblüten bestehenden Beiwerk den orientalischen Typus solcher Muster veranschaulichen. Völlig aufgelöst erscheint dann in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. in
Spanien die Granatapfelblüte (Abb. 105), deren gewürfelte Einzelheiten an frühere arabische spitzovale Formen erinnern. In gleicher Weise werden in späterer Zeit ähnliche Muster auch im Orient freier, wodurch der Zusammenhang mit der europäischen Formenwelt noch augenscheinlicher wird. (Abb. 106.)
Ein dem Granatapfelmuster verwandtes Motiv tritt noch einmal in Erscheinung, als am Ende des 17. Jahrh. sich der französische Barockstil unter dem Einfluss italienischer Kunstformen bildet; indessen liegt diesem Stoffmuster lediglich die Frucht der Ananas zu Grunde. (Vgl. Abb. 107 u. 18—20.) Hinsichtlich des Gebrauchs der grossmusterigen Granatstoffe ist es bemerkenswert, dass dieselben nicht nur zu Tapeten oder für sonstige Innendekoration Verwendung fanden, sondern auch zu Gewändern verschnitten wurden, wofür die Bilder jener Zeit die interessantesten Beispiele aufweisen. (Vgl. Abb. 108.)
Abb. 102 Originalaufnahme aus dem Königl. Kunstgewerbemuseum in Berlin: Sammetbrokat, Grund hellviolette Seide, Muster rot, geschnitten und mit or frisée: Bänder mit eingefügten Verschlingungen bilden spitzovale Felder, in welchen abwechselnd Granatapfel mit Krone und gotische Rose in gebuckelter Vase. Italien Anf. 16. Jahrh.
Abbildungen auf der Tafel IV. (Webereien der Gotik und Frührenaissance.)
Originalaufnahmen aus dem Königl. Landesgewerbemuseum in Stuttgart:
1. Sammetstoff, rot, Muster aus feinen Linien des Atlasgrundes auf geschnittener Fläche: Granatapfelmuster. Italien 15. Jahrh. Der
Stoff ist im 17. Jahrh. mit einem anderen Muster gepresst.
2. Seidendamast, hellblau, Muster (nicht ganz vollständig): Aeste mit Blättern besetzt, bilden Felder, in welchen abwechselnd je eine granatapfel- und eine pinienzapfenartige Blüte.
Spanien Anfang 16. Jahrh.
3. Seidendamast, rot, mit Granatapfelmuster in feinen Taffetlinien auf Atlas, Italien 15. Jahrh.
4. Sammetbrokat, rot und etwas Gold, Muster Bänder bilden spitzovale Felder, in welchen je eine granatapfelartige Füllung in Spitzbogeneinrahmung.
Skutari (?) 16. Jahrh.
5. Granatapfelmuster des 15. Jahrh. nach einem venetianischen Bilde.
6. Sammetbrokat, rot und Gold, mit Goldnoppen und or frisee: Wellig aufsteigenden Aesten entsteigen grosse und kleine Granatapfelblüten. Flandern 15. Jahrh.
7. Sammetstoff, rotbraun,
Grund Atlas, Muster geschnitten Reihenweis wechselnde Blütenfelder mit Füllung einer Granatapfelblüte. Venedig 15. Jahrh.
8. Seidendamast, weiss: Granatapfelmuster. Italien Anfang 16. Jahrh.
9. Sammetstoff,
Grund gelb, Muster hellblau, geschnitten: Rundliche Felder aus Blütenkränzen enthalten Granatapfelblüten und sind von Bändern eingeschlossen, die durch Kronen verbunden werden; dazwischen Granatäpfel. Italien Anf. 16. Jahrh.
10. Seidenstoff, rot, bunt und Gold: Rosenranken bilden spitzovale Felder, in welchen je eine spitzovale Bogenstellung mit Granatapfelblüte. Italien Ende 15. Jahrh.
11. Sammetbrokat, olivgrün,
Grund Atlas, Muster geschnitten und mit etwas Gold: Wechselnde Blütenfelder mit Kernstück aus Granatapfelblüte und -Frucht. Italien 15. Jahrh.
12. Sammetstoff, grün, Muster in feinen Linien auf geschnittener Fläche: Granatblüten in Bogenstellungen. Italien 15. Jahrh.