Lexikon

Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker für Studierende, Fabrikanten, Kaufleute, Sammler und Zeichner der Gewebe, Stickereien, Spitzen, Teppiche und dergl., sowie für Schule und Haus, bearbeitet von Max Heiden, Stuttgart 1904

Gesamtindex
Eintrag: Gotischer Stil
Gotischer Stil bezeichnet in Deutschland und Frankreich die Kunstweise der Zeit von 1200 bis 1500, in Italien bis 1400, welche in der Baukunst durch die Ausbildung des Spitzbogens gekennzeichnet ist, dessen gebrochene Linien, Fialen, Krabben u. s. w. während dieser Zeit auch in der Kleinkunst vorherrschen, wozu später für das Flachmuster Bosetten und Passfelder (s. d.), die Rose als solche, der Wein (Abb. 96), die Distel (Abb. 97) in Erscheinung treten. Das Gewebemuster im Anfange der Periode noch vollständig von sarazenischer Kunstweise beeinflusst, weil die europäische Kunstweberei und ihre Formensprache erst allmählich selbständig werden, lässt vom 14. Jahrh. ab Elemente erkennen, welche sich als spätere Gotik bezeichnen lassen, wobei früher und später die Mustergebung für kirchliche Stoffe (s. d.) auffällt, welche die Italiener nach gegebenen orientalischen Vorbildern in ihrem Geiste umgestaltet haben, in welcher Beziehung ihnen schon die Araber vielfach vorgearbeitet hatten (s. arabischer Stil). Am Ende des 14. Jahrh. hat sich in Italien die arabische Ueberlieferung verloren (vgl. die Abb. auf Tafel III); die Tiermuster sind verdrängt, die Arabesken haben sich in Blattwerk verwandelt, welches deutliche Spuren des gotischen Stils trägt: knorriges Astwerk (Abb. 98), das zackige Distellaub (Abb. 97), halb naturalistische Blätter und Blüten, vereinzelt die Lilie (Abb. 99), bis im 15. Jahrh. das sogen. Granatapfelmuster (s. d.) einsetzt und das Stoffmuster bis in die E^enaissancezeit hinein beherrscht. - Technisch ist im frühgotischen Zeitalter für die Kunstweberei wenig Neues zu verzeichnen; erst im 15. Jahrh. entfaltet sich die grösste Pracht des Damastes und des Goldbrokates, vor allem aber des Sammets, welcher uns bis dahin nur wenige Beispiele hinterlassen hatte. Ergiebiger gestalten sich einzelne Gebiete der Kunsthandarbeiten, welche zumeist noch in Kirchenwerkstätten für das Gotteshaus entstehen, wobei zu bemerken ist, dass sich in manchen Gregenden die Muster hierfür lange bis ins 16. Jahrh. hinein halten. Zahlreich vorhanden sind Stickereien auf grobem Segeltuch und aus späterer Zeit Leinenstickereien (s.d.). Von letzteren gibt es unzählige Altardecken, welche in weissem und braunem Garn Ranken mit reizvollen stilisierten Blüten enthalten, deren Flächen in allerlei Ueberfangstichen belebt sind. Ein ganz besonders schönes Stück eigener Art bewahrt das Germanische Museum in Nürnberg. (Vgl. Abb. 100.) Kirchlichen Zwecken dienstbar gemacht ist ferner das weite Gebiet der Bild- und Goldstickerei, meistens für Kaselkreuze und -Stäbe verwendet. Die Musterung besteht in Streifen aus biblischen Figuren, welche unter Spitzbogenstellungen abwechseln. Aufgelegte Goldfäden werden in roter Seide in korbflechtartiger Musterung übernäht, die Gewänder der Heiligen sind mit farbigen Seidenfäden emailartig lasiert überstickt und die Gesichter und auch oft andere Teile in malerischer Art in farbigem Plattstich ausgeführt. - Eine gröbere Art von Stickerei auf schwarzem Tuch, deren Technik an Aufnäharbeit erinnert, kommt in quadratischen Feldern zur Geltung, die zu Rücklaken für Chorgestühle zusammengesetzt sind. Auch hier hat man bunte aufgelegte Fäden in Flächen überstickt, wobei vergoldete Lederriemchen und als Unterlagen der Blütenformen, Pergamentfolien Verwendung gefunden haben. (Abb. 101.)
In die frühgotische Zeit gehört die Technik der Aufnäharbeit in Perlen und getriebenen Goldplättchen; auch eine Art der Tamburierarbeit (s. d.) auf Leinwand lässt sich in Deutschland um diese Zeit nachweisen. Schliesslich kommt auch hier in Aufnahme die Technik der sog. Gobelinwirkerei für Rücklaken und Wandteppiche (s. d.), deren Arbeiten mit Figurendarstellungen, Spruchbändern und verschiedenartigem Ornament in dunklen Umrisslinien merkwürdig in gleicher Wirkung stehen zu den bunten Glasfenstern mit Bleiverglasung derselben Zeit. (ueber Einzelheiten vergl. die Spezialartikel.)
Abbildungen:

Abb. 100 Darstellung aus dem Katalog des Germanischen Nationalmuseums in München, daselbst 1901, Tafel XV. Leinendecke, in verschiedenen Sticharten in Seide und Gold gestickt mit Darstellung eines Liebespaares zwischen einem Spruchband. Schweiz (?) 1548,

Abb. 101 Darstellung aus: Heiden, Musteratlas, Leipzig 1896, Bl.9. Quadratisches Feld eines Rücklakens, Stickerei auf schwarzem Tuch in farbiger Seide und Lederriemchen (übernähte Fäden und mit Pergament unterlegte Teile): einem rundlich gelegten Ast entsteigen nach den vier Ecken und Mittelpartien stilisierte Blütenzweige, deren Einzelformen an die Passionsblume erinnern. Deutschland 15. Jahrh.

Abb. 96 Darstellung aus: Heiden, Motive, Leipzig, 1890, BI. 221. Stickerei auf Leinen in farbiger Seide mit Darstellung zweier Bundfelder, um die sich Rosen und Weinreben ranken; in den Feldern Rosenstauden anderer Stickereien. Original Deutschland 15. Jahrb.

Abb. 97 Darstellung aus Heiden, Musteratlas, Leipzig, 1896: Kissen, Stickerei auf Leinen in farbiger Seide Darstellung von Distelzweigen an gewundenem Astwerk. Original Deutschland 15. Jahrh.

Abb. 98 Darstellung aus: Brinckmann, das Hamburgische Museum für Kunst und Gewerbe. Leipzig, 1894, S. 25. Seidenbrokatgewebe, Grund blau, Muster Gold: Schräg aufsteigende wellige Aeste, welche von Ranken aus breiten Blättern mit kleinem Zweigwerk umschlungen sind. Italien 14. Jahrh.

Abb. 99 Originalaufnahme aus dem Königl. Landesgewerbemuseum' in Stuttgart: Wollenstoff, grün, mit hellroter Seide und etwas Gold broschiert: Rauten aus verschlungenen Bändern enthalten Wappenlilien. Deutschland 14. 15. Jahrh.

Abb. Tafel III